Im Recruiting sind Veränderungen an der Tagesordnung. Doch was passiert, wenn technologische Entwicklungen auf die Herausforderungen des Fachkräftemangels und den demografischen Wandel treffen? Wir haben mit Wolfgang Brickwedde, Experte im Bereich Recruiting und Recruitment Performance Management, darüber gesprochen, wie sich Recruiting-Prozesse in den letzten Jahren verändert haben und was Unternehmen heute tun können, um ihre Zukunft im Wettbewerb um Talente zu sichern. Wir sprechen über Fehler, die viele Unternehmen immer noch machen, die Bedeutung von Benchmarks und Künstliche Intelligenz im Recruiting-Prozess.

Welche wesentlichen Veränderungen siehst du im Recruiting-Bereich in den letzten Jahren?
Die letzten Jahre haben eine interessante Mischung aus wirtschaftlichen Herausforderungen mit einer Rezession und einem gleichzeitig wachsenden Fachkräftemangel hervorgebracht. Es gibt also ein Spannungsfeld zwischen diesen beiden Faktoren. Auf der einen Seite hören wir in den Nachrichten immer wieder von Entlassungen, auf der anderen Seite stellen viele Unternehmen weiterhin Mitarbeitende ein oder suchen aktiv nach Talenten. Dieses Bild ist jedoch komplexer, als es scheint – die Arbeitslosenzahlen sind nicht wie erwartet gestiegen, da Arbeitskräfte in andere Sektoren wechseln. Beispielsweise sehen wir in der Rüstungsindustrie einen "War for Talents", bei dem Unternehmen versuchen, qualifizierte Mitarbeitende von anderen Industrien wie Automobilherstellern oder -zulieferern zu gewinnen.
Wir haben also drei Szenarien: Ca. ein Drittel der Unternehmen rekrutieren ganz normal weiter, ein Drittel sucht neue Fachkräfte und ein Drittel entlässt Mitarbeitende. Besonders interessant ist es, wenn innerhalb eines Unternehmen Fachkräfte entlassen und gleichzeitig neue rekrutiert werden, denn das führt zu einem besonderen Spannungsfeld.
Langfristig betrachtet wird sich diese Situation jedoch drastisch verschärfen. In fünf Jahren werden wir wahrscheinlich feststellen, dass uns der demografische Wandel vor noch größere Herausforderungen stellen wird. Die Babyboomer-Generation geht in Rente und die fehlenden Fachkräfte werden die Arbeitgebermärkte stärker prägen.
Was sind die größten Fehler, die Unternehmen derzeit im Recruiting machen?
Ein großer Fehler vieler Unternehmen ist, dass sie das Problem im Recruiting häufig nicht richtig angehen. Sie erkennen zwar, dass sie dringend neue Mitarbeitende benötigen, aber anstatt ihre Prozesse anzupassen, schalten sie einfach mehr Anzeigen oder versuchen es mit altbekannten Methoden. Sie denken nicht daran, den Rekrutierungsprozess aus der Sicht der Kandidat:innen zu betrachten. Dabei wäre es wichtig, diesen zu optimieren, um den Kandidat:innen einen reibungslosen Einstieg zu ermöglichen – beispielsweise durch kürzere, benutzerfreundlichere Bewerbungsformulare.
Viele Unternehmen verwenden immer noch veraltete Bewerbermanagementsysteme, die potenzielle Bewerbende abschrecken, weil sie umständlich zu bedienen sind. Ein einfacheres, kürzeres Bewerbungsformular könnte die Absprungrate halbieren und damit mehr Bewerbende anziehen. Diese grundlegenden Änderungen werden oft übersehen, was die Rekrutierung unnötig erschwert.
Ein Tipp: Bewerben Sie sich mal in Ihrem eigenen Unternehmen und schauen Sie, wie gut der Bewerbungsprozess funktioniert. Daraus können Sie viele Ideen ableiten, was Sie anders machen wollen.
Welche Rolle spielt Employer Branding in diesem Zusammenhang?
Employer Branding spielt eine entscheidende Rolle im Recruiting, da es dabei hilft, die richtigen Talente anzuziehen. Ein gut gestaltetes Employer Branding sorgt dafür, dass sich die richtigen Kandidat:innen überhaupt erst für das Unternehmen interessieren. Es ist vergleichbar mit einer Stellenanzeige, die eine Selbstselektionsfunktion erfüllt. Das Branding sorgt dafür, dass die Bewerbenden eine gute Vorstellung davon haben, ob das Unternehmen zu ihnen passt und ob sie sich dort langfristig entwickeln können. Es hilft dabei, die „Quality of Hire“ bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Recruiting-Prozess zu beeinflussen.
Es geht aber noch über Employer Branding hinaus: Eignungsdiagnostik kann ebenfalls helfen, die passenden Mitarbeitenden zu finden und zu binden. Da gibt es also verschiedene Wege.
Du bist Experte für Recruitment Performance Management. Was genau verbirgt sich dahinter und wie hilft es Unternehmen, ihre Recruiting-Prozesse zu verbessern?
Recruitment Performance Management ist mein systematischer Ansatz, um über zwölf erfolgskritische Aktivitäten im Recruiting den gesamten Recruiting-Prozess von Unternehmen zu bewerten – von Employer Branding bis hin zum Controlling. Ich arbeite häufig mit Unternehmen, indem wir zuerst eine Selbstbewertung durchführen, um festzustellen, wie gut ihre Prozesse derzeit funktionieren. Anschließend vergleichen wir diese Ergebnisse mit Benchmarks, also den besten Praktiken anderer Unternehmen, um Verbesserungspotenziale zu identifizieren. Durch diese Vergleiche sehen die Unternehmen schnell, in welchen Bereichen sie gut aufgestellt sind und wo sie noch Entwicklungsmöglichkeiten haben. Die nächsten Schritte werden dann je nach Reifegrad abgestimmt.
Ein gutes Beispiel ist ein Unternehmen, das seine Recruiting-Strategie als „gut“ bewertete, aber durch solch eine Analyse feststellte, dass die Kommunikation zwischen den verschiedenen Abteilungen nicht optimal war. Oftmals sind es Kommunikationsprobleme und keine grundlegenden Fehler im Prozess, die Verbesserungen nötig machen.
Du hast erwähnt, dass Benchmarks eine wichtige Rolle spielen. Welche Bedeutung haben sie für Unternehmen?
Benchmarks sind eine ausgezeichnete Möglichkeit, um zu verstehen, wie gut ein Unternehmen im Vergleich zu anderen abschneidet. Besonders für Unternehmen, die noch keine Benchmark-Daten haben, ist es wichtig, zu sehen, wo sie im Vergleich zu ihren Mitbewerbern stehen. Dabei geht es nicht nur um Zahlen, sondern auch darum, zu erkennen, welche Strategien andere Unternehmen verfolgen und wie diese auf die eigenen Prozesse angewendet werden könnten.
Ein entscheidender Vorteil von Benchmarks ist auch, dass sie Unternehmen helfen können, ihre Prozesse intern besser zu argumentieren. Wenn beispielsweise eine HR-Abteilung mehr Budget für Recruiting fordert, kann sie dies mit konkreten Vergleichszahlen untermauern, die zeigen, dass andere Unternehmen mit höherem Budget auch bessere Ergebnisse erzielen.
Wie siehst du die Zukunft des Recruitings, besonders in Bezug auf die zunehmende Relevanz von KI?
KI wird das Recruiting grundlegend verändern. Wir erleben seit 2022 die Demokratisierung von KI, sodass prinzipiell jedes Unternehmen KI-Tools wie ChatGPT einsetzen kann, um die Erstellung von Stellenanzeigen oder die Vorauswahl von Kandidat:innen zu optimieren. Diese KI-Assistenz spart Zeit und macht den Prozess effizienter. Allerdings hängt der Output natürlich auch ganz stark von der Qualität der Prompts ab.
Ein weiteres Konzept, das immer relevanter wird, ist der Begriff der Talent-Orbits: KI kann helfen, Interessenten gezielt engagiert zu halten und näher an das Unternehmen heranzuführen, auch wenn sie sich noch nicht offiziell beworben haben.
In Zukunft werden auch KI-Agenten eine größere Rolle spielen. Diese Agenten könnten nicht nur Stellenanzeigen erstellen, sondern auch den gesamten Bewerbungsprozess begleiten – von der Veröffentlichung der Stellenanzeige über die Vorauswahl bis hin zur Kontaktaufnahme mit Bewerbenden.
In Bereichen mit hohem Bewerbungsaufkommen, wie zum Beispiel bei FedEx in den USA, wird KI in Form von Chatbots bereits eingesetzt, um den gesamten Recruiting-Prozess zu automatisieren, da ist dann kein Mensch mehr involviert. In spezialisierten Bereichen mit weniger Bewerbungen braucht es jedoch weniger KI. Eventuell übernimmt die KI hier Verwaltungsprozesse, sodass die Recruiter sich auf das Wesentliche konzentrieren können. KI wird also eher als Unterstützung und nicht als Ersatz für Recruiter fungieren.
Wie können sich Recruiter auf diese Veränderungen vorbereiten?
Recruiter sollten sich unbedingt mit KI vertraut machen und lernen, wie sie diese Tools effektiv nutzen können. Es ist wichtig, nicht nur passive:r Nutzer:in zu sein, sondern die Technologie aktiv zu erlernen und zu verstehen, wie sie den Recruiting-Prozess verbessern kann. Aber auch das kritische Hinterfragen der Ergebnisse ist entscheidend. KI ist ein großartiges Werkzeug, aber sie ist nicht fehlerfrei. Recruiter müssen lernen, die Ergebnisse der KI richtig zu interpretieren und zu prüfen, ob sie tatsächlich den gewünschten Effekt erzielen.
Darüber hinaus sollten Recruiter überlegen, wie sie sich von wiederholenden, langweiligen Aufgaben befreien können, um sich auf die wertschöpfenden Aspekte des Jobs zu konzentrieren: die persönliche Interaktion mit Kandidat:innen.
Wolfgang Brickwedde ist renommierter Recruiting-Experte und Director des Institute for Competitive Recruiting. Mit mehr als 20 Jahren Erfahrung im Bereich Employer Branding und Recruiting berät er Unternehmen bei der Optimierung ihrer Prozesse. Er ist zudem ein gefragter Speaker und Autor, der sich intensiv mit der Zukunft des Recruitings beschäftigt, insbesondere mit der Rolle von Künstlicher Intelligenz. Wenn Sie wissen wollen, wie gut Ihr Recruiting im Vergleich zum Wettbewerb ist, nehmen Sie am großen ICR Recruiting Benchmark 2025 teil – in diesem Jahr mit besonderem Fokus auf Künstliche Intelligenz und RecTech: https://de.surveymonkey.com/r/ICRRecruitingBenchmarkeAJH
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