Noch nie gab es für deutsche Abiturienten so eine große Auswahl an Möglichkeiten nach dem Abitur. Unternehmen verzweifeln an der scheinbaren Unwilligkeit der Gymnasiasten eine Ausbildung zu beginnen. Wie ticken die Abiturienten von heute eigentlich?
Das Abitur ist nicht einfacher geworden. Auch wenn die Generation der Eltern und Großeltern das immer wieder gern behauptet und verschiedene (teils sehr unseriöse Studien) dies beweisen zu versuchen. Faktisch gibt es keine Belege für eine Vereinfachung oder eine Erschwerung des Abiturs. Es gibt aber folgende Fakten zu den heutigen Abiturienten:
- Sie sind im Durchschnitt 18 Jahre alt
- Haben eine durchschnittliche Abiturnote von 2,4 (Thüringen liegt auf Platz 1)
- Fallen nur mit knapp 3% durchs Abi (Sachsen-Anhalt belegt Platz 1)
- Beginnen zu rund 25% eine Ausbildung statt ein Studium
- Haben zu rund 20% ein Einser-Abitur (1,0 – 1,9)
- Wählen zu rund 20% einen alternativen Bildungsweg nach dem Abitur (z.B. Reisen)
- Verbringen durchschnittlich 2-4 Stunden pro Tag mit Hausaufgaben bzw. Lernen
- Sind mindestens genauso verunsichert wie die Generation davor, davor und davor
Dazu ein passendes Video der Sendung „quer“ vom bayerischen Rundfunk (BR):
Die Klagen der Unternehmen sind jedoch ebenfalls verständlich. Der aktuelle Berufsbildungsbericht zeigt, dass im Jahr 2015 mehr als 40.000 Lehrstellen nicht besetzt werden konnten. Ein Grund ist mit Sicherheit, dass immer mehr Abiturienten sich gegen eine Ausbildung oder ein Studium entscheiden. Doch warum ist das so? Wie nennen drei Gründe:
#1 – Der Druck steigt
Es klingt wie eine Klagelied einer verwöhnten Generation: zu viele Hausaufgaben, enormer Leistungsdruck, keine Möglichkeiten zum Ausgleich. In der Tat ist der (gefühlte) Druck auf deutsche Abiturienten in den letzten Jahren enorm gestiegen. Die Wissenschaft zeigt sich skeptisch, ob dies an einem tatsächlichen Mehraufwand liegt oder der Druck ggf. von anderer Stelle aufgebaut wird.
Beobachtungen von Lehrern zeigen, dass viele Eltern eine enorme Erwartungshaltung an ihre Kinder haben. Das Abitur soll möglichst gut abgeschlossen werden, Fehltage sind nicht möglich, Hausaufgaben bis spät in die Nacht und nebenbei noch eine weitere Fremdsprache lernen. Aber auch das Schulsystem ermöglicht wenig Spielraum für Individualisten. Zurück bleiben leistungsschwache Kinder und Eltern, die vielleicht nicht die Möglichkeit haben teure Nachhilfeeinrichtungen zu unterstützen.
#2 – Die Wirtschaft verbaut es sich selbst
Immer wieder sieht man Ausbildungsangebote für Berufe, welche einfach kein Abitur benötigen. Als Einzelhandelskaufmann ist eine zwingende Abitur-Voraussetzung absurd bis unrealistisch. Ebenso in vielen gewerblichen Berufen oder kaufmännischen Grundausbildungen. Das Abitur sollte zum Studium berechtigen. Eine Ausbildung nach dem Abitur sollte etwas Besonderes sein. Kein Abiturient wird sich nach 12 oder 13 Jahren Abi jeden Tag 8 Stunden in eine Filiale an die Kasse setzen. Diese Einsicht fehlt aber vielen Personalentscheidern, da man die eigenen Stellenausschreibungen höher bewertet als sie eigentlich sind. Hier ist ein Umdenken nötig. Die Entwertung der Realschule durch exklusive Stellenausschreibungen für Abiturienten muss endlich aufhören.

#3 – Die Freiheit genießen
Junge Menschen haben den Vorteil der Ungebundenheit. Sie sind nicht gegenüber anderen Menschen (z.B. Kindern oder pflegebedürftigen Eltern) verpflichtet. Ihnen wird aber bereits sehr früh mitgeteilt, dass diese Zeit irgendwann endet. Bedingt durch neue Technologien und den sozialen Netzwerken entdecken die Jugendlichen immer mehr die Alternativen zum Studium oder der Ausbildung.
Das Reisen um die Welt wird immer beliebter. Egal ob Work and Travel oder geführte Reisen – diese Welt ist zu groß, um sie nicht zu entdecken. Die Schüler stammen meist auch aus einkommensstarken Elternhäusern und haben somit auch wenig Probleme bei der Finanzierung.
Fazit: Gedankenwechsel
Das Abitur wird weder härter noch einfacher. Der Stress steigt jedoch dennoch. Der Einfluss der Eltern auf den Bildungsweg der jungen Abiturienten verliert zunehmend ab Bedeutung und alternative Karrierewege nach dem Abi gewinnen an Popularität. Unternehmen sollten sich diesem Trend stellen. Denkbar sind Auslandsaufenthalte für Azubis, flexiblere Ausbildungsmodelle oder neue Recruiting-Wege. Wichtig ist jedoch die Erkenntnis, dass man den Abiturienten nicht durch Abwarten und Klagen bekommt. Man muss aktiv werden.